Neben dem Erforschen unserer Gefühle, unseres Denkens, unserer Gesundheit, Lebensträume und Sexualität, gibt es ein weiteres großes Thema, über das ich zur Zeit lernen darf: nämlich, dass unser Wert nicht an Produktivität, Leistung und Erfolg gekoppelt ist.

In unserer Gesellschaft, in der wir oft nach unserer Intelligenz und unserem Verstand bewertet werden, in der wir fast immer irgendein Ziel im Hinterkopf haben, in der wir so gut funktionieren müssen, um all unseren Rollen im Alltag gerecht zu werden, ist das schon fast ein rebellischer Gedanke: Ein Tag ist auch dann ein guter Tag, wenn wir nicht „funktioniert“ haben. Ein Tag ist auch dann wertvoll, wenn er nicht „produktiv“ war. Ein Projekt ist auch dann erfolgreich, wenn es „nur“ Spaß gemacht hat, aber kein Geld einbringt. Und vor allem: WIR sind genauso wertvoll und liebenswert, wenn wir „keine guten Noten“ mit nach Hause bringen. Wenn das Essen nicht gelungen ist oder die Präsentation nicht perfekt ist, wenn der Abgabetermin nicht eingehalten werden konnte, wir beim Arbeiten mehr Pausen brauchen als noch vor 10 Jahren oder die Wohnung nicht aufgeräumt ist. Und wir uns stattdessen mehr Zeit erlauben, um zu atmen, Pausen einzulegen und unperfekt zu sein. Klar, du weisst das, aber kannst du es auch wirklich bis in die letzte Zelle hinein als Wahrheit spüren und annehmen? Oder gibt es da doch noch einen Teil in dir, der denkt er muss funktionieren, um akzeptiert zu werden?

Sein statt funktionieren

Seit ich selbstständig bin, werde ich nochmal auf einer ganz anderen Ebene mit diesem Thema konfrontiert. Zum Beispiel dann, wenn ich mir erlaube der Freude zu folgen anstatt der To-Do Liste und diese Freude mich Montag vormittags ins Schwimmbad führt – anstatt an den Schreibtisch. Da sitze ich dann als Einzige im „arbeitsfähigen Alter“ mit vielen glücklichen Rentnern im Hot Pot und frage mich: Darf ich das? Gleich nach dem Wochenende? Da sollte ich doch eigentlich erholt sein und die Woche produktiv starten, oder? Ein weiser Teil in mir sagt „Ja, du darfst das“ und doch ist da ein Hauch von schlechtem Gewissen. Oder wenn ich tagsüber lange Spaziergänge durch die Natur mache und mir diese innere Stimme zuflüstert, dass es so viel zu tun gibt und ich jetzt eigentlich am PC sitzen und an dem Projekt weiter arbeiten sollte anstatt hier in der Natur Zeit zu verschwenden. Es hat eine Weile gedauert, bis ich Spaziergänge (vor allem die unter der Woche) ohne schlechtes Gewissen genießen konnte.

Oft sind wir so darauf programmiert wie Maschinen zu funktionieren, dass wir vergessen wie wichtig es ist, durchzuatmen und auch einfach mal nur zu sein. Das Verrückte ist: selbst dann, wenn unsere Intention ist, nur „zu sein“ tappen wir manchmal dennoch in die Funktionieren-Falle. Zum Beispiel, wenn wir uns Zeit für Yoga, Meditation, Spiel oder Kunst nehmen. Dann beobachte ich mich und andere manchmal dabei, dass wir auch hier wieder ein Ziel verfolgen möchten: zum Beispiel, dass es dann eine „gute“ Yogastunde wird. Oder wenn wir kreativ sind, wünschen wir uns, dass ein schönes Bild dabei herauskommt. Wenn wir ein Instrument üben, dann mit dem Ziel, dass es gut klingen soll.

So ist es oftmals gar nicht so einfach, mal nicht zu funktionieren, sondern wirklich nur zu sein oder etwas aus reiner und purer Freude an der Sache zu machen – losgelöst von jedem Ziel oder Resultat.

Island’s Natur ist da immer wieder mein großer Lehrer – und ganz besonders auch in dieser Zeit. Knapp unterhalb des Polarkreises ist das Eis eingetroffen. Und die kurzen Tage: in Nordisland erleben wir jetzt zwar eine lange Dämmerung, die uns wunderschönes Fotografen-Licht schenkt, aber die direkte Sonneneinstrahlung wird durch die Berge, welche den Fjord umgeben, immer kürzer. Nun beginnen die dunkelsten 2 Monate des Jahres. Dunkelheit. Rückzug. Winterschlaf. Pause. Sein.

 

Der Winter in Island inspiriert zum Entschleunigen

Ja, der Winter hier lehrt mir Entschleunigen und Stillstand. Mehr noch: Er lehrt mir, dass Stillstand ok ist. Dass er mit dazugehören darf – als Teil des Ganzen. Ohne Winter, kein Frühling, kein Sommer, kein Herbst. Die Natur braucht die Zeit, um sich zurückzuziehen, zu regenerieren, neue Kraft zu schöpfen. Um dann im Frühling wieder hervorzuschießen und sich kraftvoll und mit neuer Energie neu entfalten zu können. Wie der Zyklus der Natur dürfen auch wir Menschen alle Jahreszeiten leben. Nicht nur im Außen, sondern auch im Inneren. Yin und Yang. Passiv und Aktiv. Geben und Empfangen. Es braucht eine Balance aus beidem, damit wir die Freude am Leben und Tun nicht verlieren und im Gleichgewicht bleiben. Für unsere Gesundheit.

Oft verherrlichen wir den „Sommer“: Wir packen unser Leben voll, sind aktiv, setzen Ideen um, arbeiten und hetzen der nie-endenden To-Do Liste hinterher. Gestresst zu sein ist heute schon fast eine Tugend. Dieser Teil in uns ist total wertvoll, er treibt uns an, hilft uns unsere Träume zu verwirklichen und ermöglicht es uns, unseren Alltag zu organisieren. Doch es braucht auch Phasen der Ruhe und des Rückzugs, damit wir langfristig gesund und lebensfroh sein und unserer Intuition lauschen können. Der leisen Stimme in uns, die immer weiß was uns gut tut. Phasen des ziellosen Treibens, Zeiten ohne Reize. Es braucht Entschleunigung. Übrigens nicht nur im Alltag, sondern auch in unserer Sexualität. Wenn wir immer nur dem Höhepunkt hinterherhetzen, können wir auf dem Weg dahin ganz viel Tiefgang, Verbundenheit und Echtheit verpassen. Denn diese liegen oft im Innehalten, im Verlangsamen und Lauschen, auf die sanften Zwischentöne, die im schnellen Trubel oft untergehen.

 

Wie kannst du deinen persönlichen Winter ehren?

Seinen Winter zu ehren kann für jeden von uns individuell ganz anders ausschauen: für deinen Alltag kann es bedeuten, dass du dir den Gedanken erlaubst, dass es auch dann ein guter Tag war, wenn Dinge schief gelaufen sind. Vielleicht bedeutet es für dich, ein paar Sachen von deiner To-Do Liste zu streichen oder sie weniger perfekt zu machen, damit dir Zeit für ein warmes Bad bleibt. Oder vielleicht inspiriert es dich, auf deine Bedürfnisse zu achten und Aufgaben langsamer zu machen, vielleicht auch immer mal wieder bewusst länger und langsamer als üblich auszuatmen (das aktiviert das parasympathische Nervensystem). Für dein Berufsleben kann es bedeuten darauf zu achten, dass Produzieren und Energie abgeben in einem gesunden Gleichgewicht sind mit Pausen und Energie auftanken. Vielleicht magst du dein nächstes Projekt statt 140% perfekt mal nur 80% perfekt abgeben – und dich dabei trotzdem anerkannt und wertvoll fühlen. Vielleicht bedeutet es, dass du auch dann auf dich stolz sein darfst. Für deine Sexualität kann es bedeuten, vielleicht mal nicht dem schnellen Orgasmus-Glück hinterherzujagen, sondern den eigenen Körper und den des Partners mal wieder spielerisch und achtsam zu erforschen. Oder sich die Intention zu setzen, sich einfach mal nur gute Gefühle zu bereiten und all diese schönen Empfindungen im Körper zu sammeln und sie für uns als Energiequelle zu behalten und speichern, anstatt sie im Orgasmus gleich wieder loszuwerden. Diese Energie lädt uns auf und kann uns Kraft für den nächsten Tag geben.

Ganz egal ob dein Sommer und Winter den tatsächlichen Jahreszeiten entsprechen oder du deinen eigenen Rhythmus hast: ich freue mich, wenn ich dich mit diesem Artikel und den Bildern aus Island heute einfach inspirieren kann, auch mal deinen Winter zu feiern und zu ehren: die Zeiten der Langsamkeit und des Stillstands. In denen sich von Außen sichtbar gar nicht viel tut, aber im Inneren da bewegt sich etwas, da brodelt es, da wachsen die Wurzeln tiefer in die Erde und bereiten sich darauf vor, im nächsten Frühjahr wieder auszutreiben. Kraftvoll und energiegeladen – die Natur genauso wie wir Menschen.

Deine Steph